619      Hier sieht etwas aus wie die Überreste eines Losens. Und durch diesen Aspekt gewinnt es plötzlich Tiefe. Würden wir erfahren, daß der Kuchen mit den Knöpfen in einem bestimmten Fall etwa ursprünglich zu Ehren eines Knopfmachers zu seinem Geburtstag gebacken worden sei & sich der Gebrauch dann in der Gegend erhalten habe, so würde dieser Gebrauch tatsächlich alles „Tiefe” verlieren es sei denn daß es in seiner gegenwärtigen Form an sich liegt. Aber man sagt in so einem Fall oft: „dieser Gebrauch ist offenbar uralt”. Woher weiß man das? Ist es nur weil man historisches Zeugnis über derartige alte Gebräuche hat? Oder hat es noch einen andern Grund, einen den man durch Interpretation gewinnt? Aber auch, wenn die vorzeitliche Herkunft des Gebrauchs & die Abstammung von einem finstern Gebrauch historisch erwiesen ist, so ist es doch möglich daß der Gebrauch heute gar nichts mehr Finsteres an sich hat, daß nichts von dem vorzeitlichen Grauen an ihm hängengeblieben ist. Vielleicht wird er heute nur mehr von Kindern geübt die im Kuchenbacken & Verzieren mit Knöpfen wetteifern.
Dann liegt das Tiefe also nur im Gedanken an jene Abstammung. Aber diese kann doch ganz unsicher sein & man möchte sagen: „wozu sich über eine so unsichere Sache Sorgen machen || sorgen” (wie eine rückwärts schauende Kluge Else). Aber solche Sorgen sind es nicht. – Vor allem: woher die Sicherheit daß ein solcher Gebrauch uralt sein muß (was sind unsre Daten, was ist die Verifikation)? Aber haben wir denn eine Sicherheit?, können wir uns nicht darin irren & des Irrtums historisch überführt werden? Gewiß, aber es bleibt dann noch immer etwas, dessen wir sicher sind. Wir würden dann sagen „Gut in diesem einen Fall mag die Herkunft anders sein, aber im allgemeinen ist sie sicher die vorzeitliche”. Was uns dafür Evidenz ist, das muß die Tiefe dieser Annahme enthalten. Und diese Evidenz ist wieder eine nicht-hypothetische psychologische. Wenn ich nämlich sage: das Tiefe in || an diesem Gebrauch liegt in seiner Herkunft wenn es sich so zugetragen hat. So liegt also entweder das Tiefe in dem Gedanken an so eine Herkunft oder das Tiefe ist selbst nur hypothetisch & man kann nur sagen: Wenn es sich so zugetragen
hat so war das eine finstere tiefe Geschichte. Ich will sagen: Das Finstere, Tiefe liegt nicht darin, daß es sich mit der Geschichte dieses Gebrauches so verhalten hat, denn vielleicht hat es sich gar nicht so verhalten; auch nicht darin, daß es sich vielleicht oder wahrscheinlich so verhalten hat, sondern in dem was mir Grund gibt, das anzunehmen. Ja woher überhaupt das Tiefe & Finstere im Menschenopfer. Denn sind es nur die Leiden des Opfers die uns den Eindruck machen? Krankheiten aller Art die mit ebensoviel Leiden verbunden sind, rufen diesen Eindruck doch nicht hervor. Nein, dies Tiefe & Finstere versteht sich nicht von selbst wenn wir nur die Geschichte der äußeren Handlung erfahren, sondern wir tragen es wieder hinein aus einer Erfahrung in unserm Innern.
     Die Tatsache, daß das Los durch einen Kuchen gezogen wird hat (auch) etwas besonders Schreckliches (beinahe wie der Verrat durch einen Kuß) & daß uns das besonders schrecklich anmutet hat wieder eine wesentliche Bedeutung für die Untersuchung¤ solcher Gebräuche
[eines solchen Gebrauchs].
     Es ist, wenn ich so einen Gebrauch sehe, von ihm höre, wie wenn ich einen Mann sehe der || wie er bei d Gelegenheit || einem geringfügigen || geringfügigem Anlaß streng mit einem andern spricht, & aus dem Ton der Stimme & dem Gesicht merke, den Eindruck erhalte daß dieser Mann bei gegebenem Anlaß furchtbar sein kann. Der Eindruck den ich hier erhalte, kann ein sehr tiefer & außerordentlich ernster sein.