| 135 Zuerst
muss ich bemerken,
dass ich zum ‘Lesen’, in
dieser Betrachtung, nicht das [v|V]erstehen des Sinns
des Gelesenen rechne; sondern Lesen ist hier die
Tätigkeit, Geschriebenes oder Gedrucktes in Laute
umzusetzen; aber auch aber, nach Diktat zu schreiben,
oder Gedrucktes 111 abzuschreiben,
u. dgl..
Der Gebrauch dieses Wortes unter den Umständen unsres gewöhnlichen Lebens ist uns natürlich ungemein wohl bekannt. Die Rolle aber, die das Wort in unserm Leben spielt, und damit das Sprachspiel, in dem wir es verwenden, wäre schwer auch nur in groben Zügen darzustellen. Ein Mensch, sagen wir ein Deutscher, ist in der Schule, oder zu Hause, durch eine der bei uns üblichen Unterrichtsarten gegangen, er hat in diesem Unterricht seine Muttersprache lesen gelernt. Später liest er Bücher, Briefe, die Zeitung u.a.. Was geht nun vor sich, wenn er, z.B., die Zeitung liest? ‒ ‒ ‒ Seine Augen gleiten – wie wir sagen – den gedruckten Wörtern entlang, er spricht sie laut aus, – oder sagt sie nur zu sich selbst; und zwar gewisse Wörter, indem er ihre Druckform als Ganzes erfasst, andere, nachdem sein Aug die ersten Silben erfasst hat,
112 Vergleiche nun mit diesem Leser
einen Anfänger. Er liest die Wörter, indem er
sie mühsam buchstabiert. – Einige Wörter
aber errät er aus dem Zusammenhang; oder er
weiss das Lesestück vielleicht zum
Teil schon auswendig. – Der Lehrer sagt
dann, dass er die Wörter nicht
wirklich liest (und in gewissen Fällen,
dass er nur vorgibt, sie zu
lesen). Wenn wir an dieses Lesen, an das Lesen des Anfängers, denken, und uns fragen, worin Lesen besteht, werden wir geneigt sein, zu sagen: es sei eine besondere bewusste geistige Tätigkeit. Wir sagen von dem Schüler auch: “Nur er weiss natürlich, ob er wirklich liest, oder die Worte bloss auswendig sagt.” (Ueber diese Aussagen: “Nur er weiss, …” muss später noch geredet werden.) Ich will aber sagen: wir müssen zugeben, dass – was das Aussprechen irgend eines der gedruckten Wörter betrifft – im Bewusstsein des Schülers, der ‘vorgibt’ zu lesen, das Gleiche stattfinden kann, wie im Bewusstsein des geübten Lesers, der es liest. Das Wort “lesen” wird anders angewandt, wenn wir vom Anfänger – und wenn wir vom geübten Leser sprechen. ‒ ‒ ‒ Wir möchten nun freilich sagen: Was im geübten Leser und was im Anfänger vor sich geht, wenn sie das Wort aussprechen, kann nicht das Gleiche sein. Und wenn der Unterschied nicht in dem liegt, was ihnen gerade bewusst ist, so liegt er im Unbewussten des Geistes. 113 // Und
wenn kein Unterschied in dem wäre, was ihnen gerade
bewusst ist, so im
unbewussten Arbeiten ihres Geistes; oder
auch im Gehirn. // – Wir möchten
also sagen: Hier sind jedenfalls zwei verschiedene
Mechanismen! Und was in ihnen vorgeht,
muss Lesen von Nicht-lesen
unterscheiden. – Aber diese Mechanismen sind doch
nur Hypothesen;
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