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         “Aber lesen – möchten wir sagen – ist doch ein ganz bestimmter Vorgang! Lies eine Druckseite, dann kannst Du's sehen, es geht da etwas Besonderes vor und etwas höchst Charakteristisches.” – Nun, was geht denn vor, wenn ich den Druck lese? Ich sehe gedruckte Wörter und spreche Wörter aus. Aber das ist natürlich nicht alles, denn ich könnte gedruckte Wörter sehen und Wörter aussprechen und es wäre doch nicht Lesen. Auch dann nicht, wenn die Wörter, die ich spreche, die sind, die man, zufolge einem bestehenden Alphabet, von jenen gedruckten ablesen soll. – Und wenn Du sagst, das Lesen sei ein bestimmtes Erlebnis, so spielt es ja gar keine Rolle, ob Du nach einer von Menschen all[l|g]emein anerkannten Regel des Alphabets liest oder nicht. – Worin besteht also das Charakteristische am Erlebnis des Lesens? – Da möchte ich sagen: “Die Worte, die ich ausspreche, kommen in besonderer Weise.” Nämlich sie kommen nicht so, wie sie kämen, wenn ich sie z.B. ersänne. – Sie kommen von selbst. – Aber auch das ist nicht genug; denn es können mir ja
Wortklänge
Lautreihen
einfallen, während ich auf die gedruckten Worte schaue, und ich habe damit diese doch nicht gelesen. – Da könnte ich noch sagen, dass mir die gesprochenen Wörter auch nicht so einfallen, als erinnerte mich, z.B., etwas an sie. Ich möchte z.B. nicht sagen: das Druckwort “nichts” erinnert mich immer
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an den Laut “nichts”. – Sondern die gesprochenen Wörter schlüpfen beim Lesen gleichsam herein. Ja, ich kann ein deutsches gedrucktes Wort gar nicht ansehen, ohne einen eigentümlichen Vorgang des innern Hörens des Wortkla[gn|ng]s.