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     Was ist nun an dem Satz, das Lesen sei doch ‘ein ganz bestimmter Vorgang’? Das heißt doch wohl, beim Lesen finde immer ein bestimmter Vorgang statt, den wir wiedererkennen. – Aber wenn ich nun einmal einen Satz im Druck lese und einandermal nach Morsezeichen schreibe, – findet hier wirklich der gleiche seelische Vorgang statt? ‒ ‒ ‒ Dahingegen ist aber freilich eine Gleichförmigkeit in dem Erlebnis des Lesens einer Druckseite. Denn der Vorgang ist ja ein gleichförmiger. Und es ist ja leicht verständlich, daß sich dieser Vorgang unterscheidet von dem etwa, sechs Wörter beim Anblick beliebiger Striche einfallen zu lassen. – Denn schon der bloße Anblick einer gedruckten Zeile ist ja ungemein charakteristisch, d.h., ein ganz spezielles Bild: Die Buchstaben alle von ungefähr der gleichen Größe, auch der Gestalt nach verwandt, immer wiederkehrend; die Wörter, die zum großen Teil sich ständig wiederholen und uns unendlich wohlvertraut sind, ganz wie wohlvertraute Gesichter. – Denke
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an das Unbehagen, das wir empfinden, wenn die Rechtschreibung eines Wortes geändert wird (und an die noch tieferen Gefühle, die Fragen der Schreibung von Wörtern aufgeregt haben). Freilich, nicht jede Zeichenform hat sich uns tief eingeprägt. Ein Zeichen, wie Russells “~” für die Verneinung, kann durch ein beliebiges anderes ersetzt werden, ohne daß tiefe Gefühle in uns aufgeregt würden. – Bedenke, daß das gesehene Wortbild uns in ähnlicher Weise vertraut ist, wie das gehörte.