743
Denken wir uns folgendes psychologisches
Experiment: Wir zeigen dem Subjekt zwei Linien
G
1, G
2, durch welche quer die Gerade
A gezogen ist.
Das Stück dieser Geraden, welches zwischen G
1 und
G
2 liegt, werde ich die Strecke a nennen.
Wir ziehen nun in beliebiger Entfernung von a und parallel dazu
b und fragen, ob er die Strecke b
grösser sieht als a, oder die beiden Längen nicht
mehr unterscheidet.
Er antwortet, b erscheine grösser als
a.
Darauf nähern wir uns a, indem wir die Distanz von a zu
b mit unsern Messinstrumenten halbieren und
ziehen c.
“Siehst Du c grösser als
a?” –
“Ja”.
Wir halbieren die Distanz c–a und ziehen d.
“Siehst Du d grösser als
a?” –
“Ja”.
Wir halbieren a–d.
“Siehst Du e grösser als
a?” –
“Nein”.
Wir halbieren daher e–d.
“Siehst Du f grösser als
e?” –
“Ja”.
Wir halbieren also e–f und ziehen h.
Wir könnten uns so auch von der linken Seite der Strecke a
nähern, und dann sagen, dass einer gesehenen Länge
a im euklidischen Raum nicht
eine Länge, sondern ein Intervall von Längen entspricht,
und in ähnlicher Weise
einer gesehenen Lage eines
Strichs (etwa des Zeigers eines Instruments) ein Intervall von
Lagen im euklidischen Raum: aber
dieses Intervall hat nicht scharfe Grenzen.
Das heisst: es ist nicht von Punkten begrenzt,
sondern von konvergierenden Intervallen, die nicht gegen einen Punkt
konvergieren.
(Wie
744
die Reihe der
Dualbrüche, die wir durch Werfen von Kopf und Adler erzeugen.)
Das
Charakteristische zweier Intervalle, die so nicht durch
Punkte sondern
unscharf begrenzt sind, ist,
dass auf die Frage, ob sie einander übergreifen oder
getrennt voneinander liegen, in gewissen Fällen die Antwort lautet:
“unentschieden”.
Und dass die Frage, ob sie einander berühren,
einen Endpunkt miteinander gemein haben, immer sinnlos ist, da sie ja
keine Endpunkte haben.
Man könnte aber sagen: sie haben
vorläufige
Endpunkte.
In dem Sinne, in welchem die Entwicklung von II ein
vorläufiges Ende hat.
An dieser Eigenschaft des ‘unscharfen’ Intervalls ist
natürlich nichts geheimnisvolles, sondern das
etwas Paradoxe
klärt sich durch die doppelte Verwendung des Wortes
“Intervall” auf.
Es ist dies der gleiche Fall, wie der der doppelten Verwendung des
Wortes “Schach”, wenn es einmal die Gesamtheit der jetzt
geltenden Schachregeln bedeutet, ein andermal: das Spiel, welches
N.N. in Persien erfunden hat und welches sich
so und so entwickelt hat.
In einem Fall ist es unsinnig, von einer
Aenderung // Entwicklung
// der Schachregeln zu reden, im andern Fa
ll
nicht.
Wir können “Länge einer gemessenen Strecke” entweder
das nennen, was bei einer bestimmten Messung, die ich heute um 5 Uhr
durchführe, herauskommt, – dann gibt es für diese Längenangabe
kein “ ± etc.” –, oder
etwas, dem sich Messungen nähern etc.; in den zwei Fällen
wird das Wort “Länge” mit ganz verschiedener Grammatik
gebraucht.
Und ebenso das Wort “Intervall”, wenn ich einmal
etwas Fertiges, einmal etwas sich Entwikkelndes ein Intervall nenne.
I) die Intervalle liegen getrennt
II) sie liegen
getrennt und berühren
sich vorläufig
III)
unentschieden
IV) unentschieden
V)
unentschieden
VI) sie übergreifen
VII) sie
übergreifen
745
Wir können uns aber nicht wundern, dass nun ein
Intervall so seltsame Eigenschaften haben soll; da wir eben das
Wort “Intervall” jetzt in einem nicht gewöhnlichen Sinn
gebrauchen.
Und wir können nicht sagen, wir haben neue Eigenschaften gewisser
Intervalle entdeckt.
Sowenig wie wir neue Eigenschaften des Schachkönigs entdecken
würden, wenn wir die Regeln des Spiels änderten, aber die Bezeichnung
“Schach” und “König”
beibehielten.
(Vergl. dagegen Brouwer, über das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten.)
Jener Versuch ergibt also wesentlich, was wir ei
[j|n]
“unscharfes” Intervall genannt haben; dagegen wären
natürlich andere Experimente möglich //
denkbar // , die statt dessen ein scharfes Intervall
ergeben.
Denken wir etwa, wir bewegten ein Lineal von der Anfangsstellung
b, und parallel zu dieser, gegen a hin, bis in unserm Subjekt
irgend eine bestimmte Reaktion einträte: dann könnten wir den
Punkt, an dem die Reaktion beginnt, die Grenze unseres Streifens
nennen. –
So könnten wir natürlich auch ein Wägungsresultat “das
Gewicht eines Körpers” nennen und es gäbe dann in diesem Sinn
eine absolut genaue Wägung,
d.h.
d.i. eine, deren Resultat nicht die Form
“G ±
g” hat.
Wir haben damit unsere Ausdrucksweise geändert, und müssen nun sagen,
dass das Gewicht des Körpers schwankt und zwar nach
einem uns unbekannten Gesetz.
(Die Unterscheidung
Der Unterschied zwischen
“absolut genauer” Wägung und “wesentlich
ungenauer” Wägung ist eine grammatische
ein
grammatischer und bezieht sich auf zwei verschiedene
Bedeutungen des Ausdrucks “Ergebnis der
Wägung”.)